Wahrheit
Ich stand auf dem Bürgersteig. Auf einem Standardbürgersteig. Einem Bürgersteig auf dem man geht. Von rechts nach links, aber selten von unten nach oben.
Meine Frau hatte mich ab-ge-setzt. Als ich aus dem Auto gestiegen war, öffnete sich die hintere Tür und ein junger Mann stieg aus. „Du hast doch nichts dagegen, daß ich vorne sitze?“, sagte er und setzte sich auf meinen Platz. „Du weißt, die langen Beine, die langen Beine!“. Das Auto fuhr los und ich stand auf dem Bürgersteig.
Alle rannten an mir vorbei, vorbei, vorbei auf ein imaginäres Ziel zu.
Keiner kann sie aufhalten, keiner ! Keiner außer sie selbst. Aber wie? Wie ? Sie begegnen sich doch nie selbst!
Ich hob die Hände zum Himmel und wollte schreien. Endlich einmal schreien, doch über meine Lippen kam nur ein müdes Lächeln. Die Füße um mich liefen weiter. Einfach weiter um mich herum. Herum, wie um einen Mülleimer- herum-, der im Weg steht- herum-, den man umgeht, den man einfach gar nicht wahrnimmt. Wie auch? Er ist ja auch kleiner als man selbst- als ein Ziel.
Ein paar Meter weiter bildete sich eine Menschentraube. Für einen kurzen Moment vergaßen sie ihr Laufen. Ich hörte hysterisches Kinderlachen. Das Lachen, das sie machen, wenn sie ein schönes Spiel spielen. Ich drückte ein paar Köpfe beiseite und sah sie, sah sie spielen, mit einem anderen Kind spielen. Sie traten es. Drei Kinder traten es ins Gesicht. Ein Mann neben mir aß seine Currywurst. Es hatte sich ein Tropfen Soße an seinem Kinn gebildet , als er sagte: “ So etwas kann einem wirklich den Appetit verderben. Wenn man das so sieht, bekommt man ja glatt Angst. Bekommt man ja noch Angst um seine eigene Haut!“ Er drehte sich kopfschüttelnd um und ging weiter.
Ich stand wieder alleine. Alleine in mir, die Hände erhoben. Da erblickte ich einen Menschen, einen anderen Menschen, der an einer Hauswand lehnte und zu mir schaute, mich anschaute. Nur das Vorbeihasten der Füße unterbrach unmerklich mein Schauen. Er lächelte ein Lächeln, das man lächelt, weil man weiß, weil man einfach nur weiß, ohne Worte- weiß. Er winkte langsam, winkte mich lanhsam zu sich. Ohne zögern ging ich auf ihn, durch die Füße hindurch, zu. „Ich habe etwas für dich. Einen Teil, den du verloren hast. Ich möchte ihn dir wiedergeben!“. Er öffnete seine Hand und reichte mir meinen Ring. „Ich weiß, du willst wissen, wie ich an ihn komme. Ich werde dir zeigen, wo er lag, wo du ihn für dich hingelegt hast, als er deine Hand verließ.“
Vor meinem geistigen Auge sah ich noch einmal die Bilder in den Bildern, wie ich am Wasser stand und die Wahrheit sah. Meinen Teil der Wahrheit und ich wußte, ich mich trennen von dir. Trennen ohne Wiederkehr, denn das Wasser ist zu dunkel und zu tief. Ich streifte ihn ab, von meiner Hand, daß erste Mal. Holte aus, holte mit Anlauf aus und ließ los. Das erste Mal- los. Sah wie er flog- sah den Moment, an dem du ihn mir auf meine Hand gesteckt hattest. Ich hatte das Gefühl, ich müsse die Zeit anhalten und ihm hinterher kriechen. Im hohen Bogen hinter- her- kriechen. Die Zeit lief weiter- wie die Füße- nur wohin?
Er lächelte und drehte sich ein stückweit von der Mauer weg. Erst jetzt bemerkte ich das kleine Loch in der Wand. Er nickte. „So klein muß man sein, so klein wie du jetzt, damit man überhaupt das Loch sieht. Ziehe dich aus! Du mußt wirklich alles loswerden, sonst kommst du da nicht durch.“